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– «Krieg» – «unterkriegen»

Es muss wohl an der Zeitenwende liegen, dass es normal ist, die Geschichte auszublenden und den Menschen «Vergessen» beizubringen. Kindergärtner, Lehrer, Zeitungen, Fernsehen, Radio und Politiker in der Schweiz passen sich automatisch sprachlich dem grossen Nachbarn mit Hingabe und Rücksicht an, wenn es um das Benutzen des Wortes «kriegen» geht. Es ist nicht modern zu sagen, «wir bekommen ein Kind», «ich möchte diese Zuckerwatte», nein, es heisst nur noch «wir kriegen ein Kind», «ich kriege diese Zuckerwatte».

Das ist die neue Zeit. Aber ist es passend ausgerechnet in Kriegszeiten das Wort «kriegen» bei jeder Gelegenheit zu pflegen um den Integrationswillen zu beweisen?

Seit Beginn des «Krieges» in der Ukraine sind tausendfach Artikel und Beiträge in allen Medien westlich der russischen Grenzen verfasst worden, um dem Bürger die böse, menschenrechtswidrige Seite der russischen Berichterstattung «über die Ereignisse» oder «Operationen» in der Ukraine vor Augen zu führen.
Das Wort «Krieg» im Zusammenhang mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine bei uns zu benutzen ist bereits zum Prinzip geworden. Wehe dem, der das Wort «Krieg» nicht in den Mund nähme. Es würde als Putin-Versteher ausgelegt.
Wir haben inzwischen auch gelernt, dass das Wort «Krieg» im privaten wie im öffentlichen Raum in Russland unter Strafe steht.

Woher stammt die Lust das Wort «kriegen» im Alltag zu benutzen, statt freundlichere und friedlichere Synonyme?

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«ENTHALTSAMKEIT ist das Vergnügen an Sachen, welche wir nicht kriegen», reimte Wilhelm Busch, und Luther übersetzte: «Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft» (Jesaja 40, 31). Es besteht Anlass, über die Wörter Krieg und kriegen nachzudenken, ebenso wie über ihren merkwürdigen Zusammenhang.

«Krieg» ist ursprünglich die Anstrengung, das Streben, der Wettstreit, zunächst ohne Waffen wie beim Sängerkrieg auf der Wartburg. Dann ist es der blutige Wettstreit, die Schlacht (der strît bei Sempach, heisst es in alten Quellen über den eidgenössischen Sieg von 1386) und schliesslich die Abfolge von Schlachten, der heutige Wortsinn. Doch auch der ist keineswegs klar umrissen.

Die USA und die Nato haben in Vietnam und im Kosovo das Wort «Krieg» strikt vermieden; ebenso wie Frankreich 37 Jahre lang für seinen Versuch, sich in Algerien zu behaupten. Nun aber, vor zwei Monaten, hat die französische Nationalversammlung beschlossen, die «Operationen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Nordafrika» mit insgesamt fast 600 000 Toten nachträglich umzubenennen: in Algerienkrieg – der erstaunliche und rühmenswerte Versuch, die eigene Vergangenheit wenigstens sprachlich zu bewältigen; freilich überwiegend zu dem Zweck, die Veteranen dieses Krieges den Soldaten der beiden Weltkriege moralisch gleichzustellen.

Auch in Vietnam hat natürlich kein «Krieg» stattgefunden – den hätte ja nach Artikel I der amerikanischen Verfassung der Kongress erklären müssen. Doch dessen Vollmacht an Präsident Johnson besagte nur, er dürfe auf den Angriff nordvietnamesischer Torpedoboote im Golf von Tongking mit bewaffneter Gewalt reagieren – was Johnson genügte, um schliesslich mehr als eine halbe Million amerikanische Soldaten nach Vietnam zu schaufeln.

Und in Serbien – war das eigentlich ein Krieg? Die Sprecher der Nato haben das Wort nie verwendet, sie sprachen von «Operationen» wie einst die Franzosen, von Bombardements, von einer Luftoffensive. Völkerrechtlich waren sie damit gut beraten, und sogar militärisch hatten sie mehr oder weniger recht.

Nach der Uno-Resolution vom 14. Dezember 1974 hat die Nato eine Aggression begangen – nämlich die Souveränität und territoriale Integrität eines anderen Staates mit Waffengewalt verletzt. Dass man dies tun dürfe, um eine grobe Verletzung der Menschenrechte zu ahnden, war im Völkerrecht bisher nicht vorgesehen. Mag die Vermeidung des Wortes «Krieg» insofern eine List gewesen sein, so gibt doch eine verbreitete Schule von Historikern der Nato recht:

Vom Krieg sprechen sie nur, wenn zwei Mächte ähnlicher Stärke die Waffen kreuzen – sonst von Intervention, Invasion, Überfall.

Wenn das in Serbien trotzdem ein Krieg gewesen sein sollte, so jedenfalls der merkwürdigste der Kriegsgeschichte. Es fand nichts statt, als dass die einen bombardierten und die anderen sich bombardieren liessen, ein Wettstreit also wahrlich nicht; und den Bombardierenden war dabei nichts wichtiger, als dass keiner von ihnen zu Schaden kommen sollte. Zivilisten durften sterben, Soldaten nicht.

Das andere Kuriosum an diesem sogenannten Krieg war, dass die Zerstörung sogleich mit dem Versprechen gekoppelt war, nach der Kapitulation alles wiederaufzubauen. Die «Frankfurter Allgemeine» sprach von einem Krieg mit doppelter Buchführung: in der linken Spalte die Kosten der Vernichtung, in der rechten die der Wiederherstellung; mindestens für die Deutschen sei die Beteiligung am Akt der Zerstörung nur erträglich gewesen, «wenn sie ihn sich als unschönen Beginn einer humanitär motivierten Aufbauleistung schönreden können».

Schönreden, natürlich: Das gehörte immer dazu. Präsident Wilson zimmerte für die unpopuläre Entsendung amerikanischer Soldaten auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs das Begriffsdach «Kreuzzug für die Freiheit», und Präsident Roosevelt griff das Schlagwort im Zweiten Weltkrieg gern wieder auf. Zu den Gründen der amerikanischen Niederlage in Vietnam zählen manche Historiker, dass dem Weissen Haus für diesen Krieg kein akzeptables Etikett eingefallen war – ist die Sprache nicht dazu da, uns mit einem guten Gewissen zu versorgen? So ist im

Nachkriegsdeutschland aus dem Kriegsministerium das Verteidigungsministerium geworden, und die Schweiz hat ihr einstiges Militärdepartement mit dem Namen «Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport» geschmückt und zugleich entmilitarisiert.

Wie es bei alldem zu dem Wort kriegen kommen konnte, scheint ein Rätsel. Aber die Wörter gehen immer verschlungene Wege, und dieser begann so: kriegen war wirklich das Tätigkeitswort zum Krieg, es hiess also ringen, streben, sich plagen, dann auch streiten, sich bekämpfen, Krieg führen – in der Wendung «sich nicht unterkriegen lassen» ist dieser Wortsinn noch erhalten. Über «fassen, ergreifen, im Krieg erobern» hat es sich dann zum umgangssprachlichen Synonym für «bekommen» verdünnt: Sie hat ein Kleid gekriegt und er die Kurve. So gehen Wörter auf die Reise – auf einen Kriegszug also; denn das ist des beliebten Wortes verheerende Urbedeutung.

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom August 1999. Wolf Schneider

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